Gegenstand des Forschungsprojektes ist die Geschichte der Krankenreviere (oder Häftlingskrankenbaue) in den Konzentrations- und Vernichtungslagern des NS-Regimes. Besonders im Blickpunkt stehen die Zeitzeugenberichte deportierter Mediziner. Das Interesse an diesen spezifischen Zeitzeugenberichten ergibt sich einerseits aus dem Umstand, dass die Krankenreviere, in denen diese Mediziner unter dem Zwang der SS arbeiteten, als Orte der „Selektion“ im Zentrum der SS-Tötungspraxis standen, andererseits daraus, dass die Sonderkommandos über eigene Krankenreviere verfügten. Um diese bis heute ungeschriebene Geschichte nachzuzeichnen, wurde ein Textkorpus, bestehend aus nach 1945 in Frankreich publizierten Zeitzeugenberichten von Ärzten, erstellt. Dass eine systematische historiografische Untersuchung dieses Quellentyps derzeit aussteht, liegt einerseits darin begründet, dass die Zeitzeugenberichte ehemals deportierter Mediziner in verschiedenen europäischen Sprachen abgefasst wurden. Andererseits thematisiert die Historiographie vorrangig die Geschichte der Täter (SS-Ärzte wie Josef Mengele); die Auseinandersetzung mit den Opfern erfolgt in wesentlich geringerem Maß. Im Mittelpunkt dieses Forschungsprojektes stehen die Geschichte der medizinischen Versorgung, der Überlebensstrategien, des Opfertauschs und im Allgemeineren die Frage nach „Zwangsentscheidungen“ (auch choiceless choices) der deportierten Mediziner, die gezwungen waren, in den Krankenrevieren der Lager zu arbeiten. Ein weiterer Grund für den thematischen Fokus ist, dass die Krankenreviere auch im Zentrum weiterer Zeitzeugenberichte stehen („Die Grauzone“ von Primo Levi).
Ansprechperson: Dr. Emmanuel Delille