Sexuelle Handlungen zwischen Männern standen in der Bundesrepublik Deutschland in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens ohne jede Einschränkung unter Strafe und wurden gerichtlich verfolgt. Der ursprünglich aus dem Kaiserreich stammende Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, der die Strafbarkeit der „Unzucht zwischen Männern“ festschrieb, war 1935 von den Nationalsozialisten verschärft und nach dem Zweiten Weltkrieg in der nationalsozialistischen Fassung in das Strafrecht der Bundesrepublik übernommen worden. In der Folge wurden rund 50.000 Männer von den Gerichten des jungen Staates für gleichgeschlechtliche Sexualhandlungen verurteilt. Bald setzte in der Bundesrepublik aber auch eine öffentliche Debatte darüber ein, ob eine solche Rechtslage mit den Werten, für die die junge Bonner Demokratie stand, vereinbar war und ob der Paragraf 175 nicht abgeschafft werden sollte. Politiker*innen meldeten sich hierbei ebenso zu Wort wie Juristinnen und Juristen, Journalistinnen und Journalisten, Mediziner, Kirchenvertreter und Aktivist*innen der Homosexuellenbewegung und vertraten in dieser Debatte teils äußerst konträre Positionen. Greifbare Folgen dieser Entwicklung zeigten sich im Zuge der Großen Strafrechtsreform, die eine weitreichende Umgestaltung des westdeutschen Strafrechts mit sich brachte und unter anderem zu einer Aufhebung des Totalverbotes mann-männlicher Sexualkontakte führte. Mit dem im September 1969 in Kraft getretenen Ersten Gesetz zur Reform des Strafrechts wurden einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern weitgehend legalisiert.
Das Forschungsprojekt zielt darauf ab, den Prozess der Entkriminalisierung männlicher Homosexualität in der Bundesrepublik in seinen unterschiedlichen Facetten verständlich zu machen. Die Hauptfrage, die im Zentrum des Vorhabens steht, lautet dabei, wie es zur Verabschiedung des Ersten Strafrechtsreformgesetzes und seiner homosexuelle Handlungen betreffenden Bestimmungen kam. Dabei soll allerdings keineswegs nur der Prozess der Ausarbeitung des Gesetzes und die vorbereitende Arbeit der zuständigen Gremien, etwa des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, beleuchtet werden. Ausgehend von der Annahme, dass in einer parlamentarischen Demokratie wie der Bonner Republik die Parteien den politischen Prozess gestalten und deren Positionierungen wiederum maßgeblich durch die öffentliche Meinung geprägt werden, muss die Frage nach den Ursachen für die Gesetzesänderung von 1969 sehr viel weiter reichen. Das Forschungsvorhaben ist daher so konzipiert, dass in einem viergliedrigen Ansatz die unterschiedlichen Dimensionen der Entkriminalisierung männlicher Homosexualität ausgeleuchtet werden und der Komplexität dieses Vorgangs Rechnung getragen wird.
An erster Stelle bezweckt das Projekt, die von der Bundesregierung beschlossene Straffreiheit für homosexuelle Handlungen als Ergebnis eines programmatischen Widerstreits der in der jungen Bundesrepublik maßgeblichen Parteien, insbesondere von CDU/CSU und SPD, zu verstehen. Zweitens soll die öffentliche Meinung als Gradmesser berücksichtigt und untersucht werden, ob die Gesetzesänderung von 1969 einen Einstellungs- und Wertewandel in der Bevölkerung widerspiegelte. An dritter Stelle ist die erinnerungskulturelle Ebene dieses Vorgangs zu analysieren, bestand doch für viele Zeitgenossen ein nicht zu leugnender Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung und der Kontinuität der Strafbarkeit homosexueller Handlungen in der neugegründeten Bundesrepublik. Zuletzt ist zu klären, welchen Anteil die nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandene Homosexuellenbewegung am Zustandekommen der Gesetzesänderung hatte und inwiefern diese als ein von ihr erkämpfter Erfolg auf dem Weg hin zu gesellschaftlicher Akzeptanz und Anerkennung angesehen werden kann. Der Untersuchungszeitraum des Projektes sind die Jahre 1949 bis 1969, von der Gründung der Bundesrepublik bis hin zum Inkrafttreten des Ersten Strafrechtsreformgesetzes.
Ansprechpartner: Dr. Matthias Gemählich