FOR 2973: Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland. Semantiken, Praktiken und Emotionen in der westdeutschen Gesellschaft 1965-1989/90
Kaum eine Religionsgemeinschaft in Deutschland dürfte sich derzeit in vergleichbaren Turbulenzen befinden wie die Katholische Kirche. Und kaum eine wird in der Öffentlichkeit als ähnlich sperrig wahrgenommen.
Mitte der 1960er Jahre war das signifikant anders: Theologen wie Hans Küng, Joseph Ratzinger oder Johann Baptist Metz waren Stars. Junge Frauen und Männer begannen Theologie zu studieren, obwohl sie keine Priester wurden und man sie immer noch als „Laien“ bezeichnete. Die caritativen Aufgaben, die bislang Ordensfrauen verrichtet hatten, werden als professionelle Sozialarbeit ein akademischer Frauenberuf. Und Priester, bislang als „Hochwürden“ verehrt, geben ihre Sonderrolle auf und gewinnen ein Profil als Lebensberater und Pastoralmanager. Theologie wird eine soziale Praxis.
Eltern kündigen Papst und Bischöfen den Gehorsam auf; nach der „Pillenenzyklika“ Humanae Vitae (1968) wollen sie sich nicht mehr in die Betten schauen lassen. In evangelisch-katholischen „Mischehen“ leben Paare selbstbewusst ein Christentum, das die bislang starren Konfessionsgrenzen überwindet. Katholische Lebensstile lassen sich nicht mehr eindeutig unterscheiden; Liturgie und Popmusik tragen das Leben der Straße in die Kirchen. Rollen und Rituale werden neu ausgehandelt.
Bislang treue CDU-Klientel, engagieren sich junge katholische Frauen bei den Grünen und stehen mit ihren Freunden oder Männern am Bauzaun von Wackersdorf. Auch in der Friedens- und Umweltbewegung gehen Christinnen und Christen auf politische Distanz zu konservativen Parteien und engagieren sich in den neuen sozialen Bewegungen. In den Großstadtpfarreien Berlins und anderswo sind die politischen Konflikte der 1960er/70er Jahre hautnah. Religion vernetzt sich auf ungewohnte Weise mit Politik und Zivilgesellschaft.
Die DFG-Forschungsgruppe 2973 stellt die Frage: „Was kommt nach dem ‚katholischen Milieu‘?“ – religionskulturell, politisch, zivilgesellschaftlich, gendertheoretisch?
Unsere zentrale These: Der überkommene Katholizismus löst sich nicht einfach in die Säkularisierung hinein auf. Vielmehr gehen aus der Sozialform des katholischen Milieus vielfältige Gestaltungen des „Katholischseins“ – des „doing Catholicism“ hervor. „Katholischsein“ als Forschungsgegenstand rechnet nicht mehr mit einem soziopolitischen und religionskulturellen Milieu, das sich vom Rest der Gesellschaft signifikant unterscheiden will. Was sind die vielen Formen des „Katholischseins“, wenn sie nicht mehr als organisierte Kirchlichkeit stattfinden?
Unsere zentrale Zielsetzung: Kirchliche Zeitgeschichte, bislang ein gesondertes Feld, wird zugleich allgemeine Zeitgeschichte.
Die FOR 2973 bearbeitet ihre Projekte an neun Universitätsstandorten. An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz bearbeitet der Arbeitsbereich Zeitgeschichte im Projektbereich C „Zivilgesellschaft und Politik“ das Thema C.2 „Das Schulkind von heute ist der Gemeinde- und Staatsbürger von morgen“.Schulpolitische Umbrüche und Katholischsein in Rheinland-Pfalz in den ausgehenden 1960er und frühen 1970er Jahren"
Die Zentrale der FOR 2973 ist die Kommission für Zeitgeschichte in Bonn.
Informationen zu Personen, Programm, Projekten und Publikationen: https://www.katholischsein-for2973.de/kfzg/katholischsein-in-der-deutschen-gesellschaft-1965-1989